Neue Studien zeigen: Naturschutz ist nicht nur für Tiere und Pflanzen, sondern auch für die Wirtschaft ein guter Deal.
Eine Analyse von Fritz Habekuß 15. Juli 2020, 16:58 Uhr. Editiert am 17. Juli 2020, 15:34 Uhr
DIE ZEIT Nr. 30/2020, 16. Juli 2020
Wie sähe die Welt aus, wenn man große Teile von ihr unter Schutz stellen würde? Nicht indem man sie einzäunt wie ein Reservat. Sondern indem man sie nur vorsichtig und nachhaltig nutzt und die Rechte derer respektiert, die dort leben – die von Pflanzen ebenso wie die von Menschen und anderen Tieren. Die Idee klingt radikal, als Edward Osborne (bekannt als E. O.) Wilson sie 2016 zum ersten Mal vorstellt. Der wohl wichtigste lebende Biologe, Jahrgang 1929 und seit mehr als 60 Jahren Professor in Harvard, entwickelt diesen Vorschlag in seinem Buch Half Earth. Bei kluger Auswahl der geschützten Gebiete, so argumentiert er, könne man 80 bis 90 Prozent aller Tier-, Pilz- und Pflanzenarten erhalten – und damit das Netz des Lebens, von dem auch das Überleben der Menschheit abhänge. Gerade einmal vier Jahre sind seither vergangen, und tatsächlich scheint aus der provozierenden Radikalität politischer Mainstream zu werden: 30 Prozent der Land- und Meeresfläche sollen bis 2030 unter Schutz gestellt werden. Dazu haben sich die meisten großen Naturschutzorganisationen und eine Reihe von Staaten bekannt. Und vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission das “30-bis-30-Ziel” in ihre Biodiversitätsstrategie aufgenommen, als Teil des Green New Deals.
Globale Abholzung :Nicht mal die Pandemie kann den Regenwald rettenDie Zeit drängt: Auch wenn vereinzelte Meldungen von Quallen, die nun durchs Hafenbecken von Venedig schwimmen, oder von Robben, die kalifornische Strände besiedeln, einen anderen Eindruck vermitteln – Natur wird in der Corona-Kriseschneller als ohnehin schon zerstört. An vielen Orten nutzen illegale Fischereiflotten und Holzfällerbrigadenaus, dass sie in Zeiten der Epidemie kaum kontrolliert werden. Bislang sind auf dem Papier erst 16 Prozent des Landes und 7 Prozent der Meere geschützt – effektiv sind es noch weniger.Nun legt ein mehr als hundertköpfiges Team von Ökonomen und Wissenschaftlerinnen um den Biologen Anthony Waldron von der Cambridge University zum ersten Mal eine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse des 30-bis-30-Ziels vor. Das Ergebnis: Jeder investierte Euro bringt fünf Euro Ertrag. Denn Naturschutz kann hohe Einnahmen generieren und ist eine Versicherung gegen die Risiken der Klimakrise, indem er die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen steigert. Und spart so Geld. Fast zeitgleich kommt eine andere Studie zu einem ähnlichen Ergebnis für den Kampf gegen die Klimakrise: Forscher vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung berechnen in der aktuellen Ausgabe von Nature Climate Change, dass es wirtschaftlich sinnvoll ist, die Erderhitzung auf unter zwei Grad zu begrenzen.
Es besteht ein merkwürdiger Widerspruch zwischen dem wilden, schönen, struppigen, überquellenden Chaos des Lebens, das mit dem Fachwort Biodiversität nur unzureichend beschrieben ist, und der Anämie der politischen Akte, mit denen es bewahrt werden soll. Dennoch: Ob es in einhundert Jahren noch Savannen geben wird voller Erdmännchen, Termitenhügel und Wildhunde, Korallenriffe mit Buntbarschen, Dornenkronenseesternen und Weißspitzenriffhaien, ob Flüsse noch unverbaut mäandern und im Frühling Auen überschwemmen dürfen, das wird in Büros in Washington, Moskau und Brüssel, in Konferenzzentren in Glasgow oder Kunming entschieden. In jener südchinesischen Stadt sollte das 30-bis-30-Ziel ursprünglich in diesem Herbst im Rahmen der alle zwei Jahre stattfindenden UN-Biodiversitätskonvention verabschiedet werden. Die Konferenz musste verschoben werden, wegen Covid-19. Darin steckt eine gewisse Ironie: Der Aufbruch zu mehr Naturschutzwird auch dadurch behindert, dass es zu wenig Naturschutz gibt. Denn Umweltzerstörung begünstigt Pandemien, davor warnen Wissenschaftlerinnen schon lange. Wo Menschen in den Lebensraum von wilden Tieren eindringen, steigt das Risiko, dass deren Krankheitserreger auf uns überspringen. Naturschutz ist die beste Vorsorge gegen Seuchen.
350 Milliarden US-Dollar könnte die Welt einsparen, wenn sie Ökosysteme schützt, schreiben die Autoren um Waldron. Intakte Natur übernimmt nämlich eine Menge sogenannter Ökosystem-Leistungen. So hat New York City zwei Milliarden in den Schutz des Gebiets investiert, aus dem die Stadt ihr Trinkwasser bezieht. Die Alternative wäre der Bau einer Aufbereitungsanlage gewesen – für zehn Milliarden Dollar. Solche Beispiele gibt es zuhauf. In den Tropen schützen Mangroven die Küsten vor Stürmen, in Städten filtern Bäume Schadstoffe aus der Luft und kühlen die Straßenzüge; Artenvielfalt in der Agrarlandschaft verhindert, dass sich Schädlinge ausbreiten, und sie erhöht die Bestäubungsleistung.Hinzu kommen 500 Milliarden US-Dollar, die Schutzgebiete erwirtschaften könnten, etwa durch umweltfreundlichen Tourismus, durch von Natur inspirierte Innovationen wie Medikamente (es gibt Chemotherapeutika, deren Wirkmechanismus auf dem Stoffwechsel von Pilzen beruht, die im Fell von Dreizehen-Faultieren aus Panama vorkommen) oder weil auf Dauer mehr Ressourcen zur Verfügung stehen, wenn sie sich erholen können: Je besser sich Fische in Meeresschutzgebieten vermehren können, desto mehr können Fischer außerhalb davon fangen.”Regierungen wären verrückt, wenn sie nicht in Natur investierten, sondern lieber in Industrien, die unsere Lebenserhaltungssysteme zerstören”, sagt Enric Sala, Meeresforscher und Mitautor der Kosten-Nutzen-Analyse. In der Vergangenheit hat es im Naturschutz nicht an ambitionierten Zielen gemangelt – sondern an Geld. 140 Milliarden Dollar, sagen die Autoren, müssten weltweit jährlich in Schutzgebiete investiert werden. Aktuell sind es nur 24 Milliarden. Vor allem fehlt ein funktionierendes System, mit dem reiche Länder ärmere ausreichend dafür bezahlen, ihren Naturreichtum nicht zu zerstören. Das wäre dringend notwendig, denn viele Länder des globalen Südens verfügen zwar über große Naturschätze – hängen aber von deren Nutzung ab und bräuchten alternative Einkommensmöglichkeiten.